Stadlau im Fokus
Geschichte(n) aus dem Grätzl

Die Donaustadt ist der am schnellsten wachsende Bezirk Wiens – ein Ort, an dem Tradition und moderne Stadtentwicklung aufeinandertreffen. Neben großen Stadtentwicklungsgebieten prägen auch gewachsene Viertel mit historischen Ortskernen wie Stadlau und Hirschstetten das Bild. Einst ländliche Dörfer, ist die Stadt im Laufe der Zeit näher herangewachsen, besonders durch den Ausbau der U2.
All diese Viertel haben ihre eigene Geschichte. Welche Spuren der Vergangenheit sind noch sichtbar? Wie haben sich die Ortskerne verändert? Und was bewegt die Menschen, die hier leben? Mit unserem Projekt „Stadlau und Hirschstetten lesen“ gehen wir diesen Fragen auf den Grund.
Stadlau und Hirschstetten lesen
Im Rahmen des Projekts begeben wir uns auf Spurensuche in die alten Ortskerne! Gerade an Orten, die sich verändern, ist es wichtig, Geschichte(n) festzuhalten und die Perspektive der Menschen vor Ort einzubeziehen. Unser Ziel: Stadlau und Hirschstetten aus erster Hand kennenlernen – durch die Augen der Bewohner*innen und der lokalen Akteur*innen.
Mit Interviews, Recherchen zur Entwicklung und stadtplanerischen Analysen zeichnen wir ein vielschichtiges Bild dieser Grätzl. So entsteht ein Dialog zwischen neu zugezogenen und lang ansässigen Donaustädter*innen. Im Frühjahr 2025 rücken wir Stadlau in den Fokus, im Herbst folgt Hirschstetten.
Robert Pinhasov - ein Menschenfreund, der alles reparieren kann

„Mit einem guten Spruch ein Lächeln hervorzuzaubern, ist das tollste Gefühl.“
Robert Pinhasov, breites Grinsen und lange weiße Haare, empfängt uns in seinem Schuster- und Reparaturgeschäft in der Langobardenstraße. Vor 30 Jahren kam der gelernte Baumaschinen-Techniker aus Israel nach Wien, wo er keine Arbeit in seinem ursprünglichen Berufsfeld fand. Sein Schwager vermittelte ihm Einblicke in das Schusterhandwerk und nach nur sechs Wochen kam er an das kleine Geschäft in der Donaustadt, wo er seitdem arbeitet.
„Der Bezirk wurde vom Feld langsam zur Stadt“, so beschreibt er die bauliche Entwicklung in der Donaustadt. In seinem ersten Arbeitsjahr fuhr er noch mit der Straßenbahn 26 über die Donau.
Stadlau habe ein starkes Nachbarschaftsgefühl und sehr hilfsbereite Bewohner*innen, meint Robert. „Ich hab‘ hier als junger Bursche erlebt, dass mich die Menschen herzlich aufgenommen haben. Als Jude hab‘ ich in all den Jahren nie Rassismus erlebt.“ Mittlerweile hat er ein sehr gutes Verhältnis zu seinen Kund*innen aufgebaut. „Sie vertrauen mir, ich vertraue ihnen, das ist ein funktionierender Kreislauf. Der Kunde muss sich wohl fühlen, sonst bist du fehl am Platz.“ Während des Gesprächs repariert er nebenbei einen Zipp, schleift einen Schlüssel und scherzt mit seinen Kund*innen.
Der Platz an dem Roberts Reparaturladen steht, ist Teil einer kleinen Einkaufsarkade. Seit 2003 umgebaut wurde, ist sein Geschäft nur durch einen kleinen Durchgang zu erreichen. „Früher gab es mehr Laufkundschaft, heute bringt man die Menschen durch das Internet her“, meint Robert dazu. Denn viele Nachbar*innen wissen durch die bauliche Situation gar nicht, dass es sein Geschäft gibt. Was ihm hier fehle, seien Geschäfte, wie sie hier früher waren, z.B. eine Drogerie, eine Bank oder auch ein Kaffeehaus.
In der Donaustadt gibt es viele Menschen, die neu zugezogen sind. „Aber wir alle sind irgendwo Ausländer“, fügt Robert hinzu. Sein Geschäft ist für ihn auch sein Zuhause, seine Kund*innen sind wie Familie.
Claus Fellner - ein fallschirmspringender Optiker mit Blick auf die Vergangenheit

„Die neue Verbindung mit der U2 in die Stadt war damals echt ein Hammer - plötzlich war man blitzschnell am Christkindlmarkt oder im Prater.“
Wir treffen Claus Fellner in seinem charmanten Optikergeschäft mit stilechter 60er-Jahre Möblierung. An den Wänden eine Vielzahl an Brillen und maßgefertigten Teakholzmöbel, die damals laut Fellner, „für die Ewigkeit“ getischlert wurden. Und tatsächlich ist Optikermeister Fellner quasi schon seit immer in Stadlau. Das Geschäft wurde 1961 von seinen Eltern gegründet und Fellner schon als Kind am Familientisch in das Handwerk eingeführt. Seit 1980 leitet er nun den Betrieb.
Bis zur Eröffnung der U2 Station war Stadlau vor allem entlang der Gemeindeaugasse ausgerichtet. Dort gab es den Bahnhof, die Post, die Kirche mit dem Friedhof – und das Gasthaus Selitsch, das heut noch unverändert dort steht. „Das Postamt war früher ein Hauptpostamt, das war extrem belebt: Kassa, Paket, Briefe, Telefon …aber die Zeiten haben sich geändert, jetzt gibt’s dafür diesen Paketkasten gegenüber.“
Musste man in die Stadt fahren, etwa um zur Schule zu gehen, saß man mehr als eine Stunde in der Straßenbahnlinie 26, die gemächlich über die Reichsbrücke ratterte. „Einfach mal geschwind in die Stadt fahren und ins Kino gehen, das gab es damals nicht“, berichtet Fellner. „Die Fahrzeit hin- und retour betrug ja schon zwei Stunden und das war noch exklusive Film!“
„Die Welt endete damals bei der Eisenbahn“, meint Fellner. Nach Hirschstetten war die Verbindung früher nicht attraktiv, es gab damals nur den Bahnschranken, um ins benachbarte Viertel zu gelangen. Jetzt gibt es dort eine Unterführung, die ein Gewinn für die Verbindung ist. Er erinnert sich noch an den Genochplatz mit den Pavillons am Markt – da gab es die Hendlbraterei, die Blumentilie, Fisch, Gemüse. „Leider“, fügt er hinzu, „gibt es das ja alles nicht mehr“.
Die öffentliche Verkehrsanbindung heute, vor allem die U-Bahn, empfindet Fellner als sehr positiv. „Da wurde eine Verkehrsader nach außen gelegt. Die neue Verbindung in die Stadt war damals echt ein Hammer. So konnte man plötzlich schnell zum Christkindlmarkt am Rathaus, zum Volkstheater oder in den Prater.“ Er erinnert sich, dass es damals auch viel weniger Brücken über die Donau gab.„Da waren die Nordbrücke, die Floridsdorfer Brücker und die Reichsbrücke. Das war’s. Finito!“
Er spricht er auch Herausforderungen an, als kleines Unternehmen heute zu überleben. „Wovon soll denn ein Optiker-Lehrling heutzutage leben? Oft werden Qualitätsprodukte billiger im Internet oder bei großen Ketten gekauft“, beschreibt er seine Situation.
Trotz dieser Herausforderungen hat Fellner, der nicht nur Optikermeister, sondern auch passionierter Fallschirmspringer und Fallschirmsprung-Lehrer ist, seine Lieblingsorte in Stadlau. „Die Kirche mit dem Sportplatz ist eine Oase und ich hoffe auch, dass der Park vor meinem Geschäft in Zukunft erhalten bleibt.“
Michaela Fankhauser - engagierte Pfarrverwalterin und Stadt-Landwirtin

„Ich bin am Vormittag Pfarrverwalterin und am Nachmittag Bäuerin.”
Wir treffen Michaela Fankhauser und ihre Mutter Barbara in ihrem wunderschönen Hof in der Schickgasse. Die Streckhöfe in dieser Zeile gehören zu den ältesten Gebäuden Stadlaus und sind schon im franziszeischen Kataster von 1829 verzeichnet. Die Höfe waren damals alle so angeordnet, dass das Wohnhaus vorne auf die Gasse ging und sich dahinter die Stallungen mit Wirtschaftsgebäuden und Gemüsegarten befanden. Rundherum waren damals nur Felder.
Der Garten der Fankhausers ist eine grüne Oase: da gibt es Bienen, einen großen Gemüsegarten, Hühner, Obstbäume, Stauden und einen großen alten Lindenbaum. Michaela Fankhauser erinnert sich noch an intensive landwirtschaftliche Nutzungen in ihrer Kindheit in den 80er Jahren.„Wir hatten viele Nutztiere, der Mähdrescher ist rein- und rausgefahren und Traktoren waren auch nicht unüblich auf den Straßen von Stadlau. 1973 gab es dann die Maul- und Klauenseuche, da hörten wir mit der Tierhaltung auf.“
Dass sie selbst zur Stadtlandwirtin wurde, verdankt sie dem grünen Daumen ihrer Mutter. So verarbeiteten die Fankhausers schon immer ihre Gartenernte, konnten aber irgendwann gar nicht mehr so viel verbrauchen, wie sie produzierten. Darum startete Fankhauser vor rund 10 Jahren ihre Stadlauer Kredenz. Der kleine Bauernstand steht vor ihrem Hof und man kann sich daraus jederzeit selbsterzeugte Marmeladen, Honig Chutneys, Tomatensaucen und viele weitere Köstlichkeiten nehmen – und natürlich eigenverantwortlich zahlen.
Früher war Stadlau mit kleinen Nahversorgern gut ausgestattet, doch heute gibt es kaum noch welche. „Beim Fleischhauer“, erinnert sich Fankhauser, „haben wir beim Sternsingen immer eine Wurstsemmel bekommen. Und es gab ein Schreibwarengeschäft in Stadlau, wo alle Kinder aus dem Grätzl ihre Hefte und ihre erste Füllfeder gekauft haben.“
Supermärkte haben sie heute genug in der Nähe. Für weitere Besorgungen fahren sie in den Gewerbepark, das Donauzentrum oder ins Stadion Center. Auch die Angebote der Metastadt wie Ausstellungen, Flohmärkte, Pop-Up Stores oder den Werksalon nutzen sie immer wieder.
Als Stadlauerin fühlte sie sich früher nicht so richtig als Wienerin. In der Schule waren sie und ihre Nachbar*innen „die aus Transdanubien“. Mit dem Bus seien sie immer über die Tangente nach Erdberg in die Schule gefahren, da waren sie schon mal eine ganze Gruppe, die zu spät kam. „Den Stau auf der Tangente gab’s schon immer“, bemerkt sie schmunzelnd.
Die Entwicklungen in Stadlau sind für sie auch mit Herausforderungen verbunden. Beinahe alle ehemaligen Streckhöfe wurden nachverdichtet und auch im Nachbarhof der Fankhausers wird ein Wohnblock gebaut. Trotz der Veränderungen empfinden sie Stadlau nach wie vor als Dorf mit starkem Gemeinschaftsleben. „Typisch für Stadlau ist, dass man sich hier kennt und den Pfarrer beim Einkaufen trifft.“
Michaela liebt den Eissalon „Eisstanitzl“im Sommer und erinnert sich an winterliche Ausflüge zum Eislaufen am Mühlwasser. Ihre Mutter sitzt am liebsten unter dem großen Lindenbaum in ihrem Innenhof. Für die Zukunft wünschen sich die Fankhausers mehr Grünflächen. „Die Fläche des ehemaligen Eisenbahner Sportvereins wäre ein toller Ort für einen Park, den die Bürger*innen selbst mitgestalten können“, gibt uns Michaela zum Abschied mit.