Von Schrittzählern, Schmetterlingen und einem funktionierenden Miteinander

Portraitfoto Max Meller
© Julia Koch

Max Meller ist als gebürtiger Wiener im 13. Bezirk aufgewachsen. Seit vierzig Jahren lebt er in der Starchant Siedlung, die ans Liebhartstal grenzt. Der Stadtteil mit der kleinen Kirche, der Kuffner Sternwarte, einigen Heurigen und dem Ottakringer Bad ist für Herrn Meller und seine Frau, eine gebürtige Ottakringerin, ein geschätztes Zuhause. Zuletzt selbständig im Büromaschinenverkauf tätig, ist er heute zwar in Pension, aber nicht weniger aktiv. Im Interview mit Julia Koch erzählt er von seiner ehrenamtlichen Tätigkeit und wie er Veränderungen der Stadt wahrnimmt.

Julia: Sie sind in Pension, was in Ihrem Fall aber nicht bedeutet, dass Sie sich „zur Ruhe gesetzt“ haben. Wie sehen Ihre Tätigkeiten an einem durchschnittlichen Donnerstag denn üblicherweise aus?

Max Meller: Seit einigen Jahren verbringe ich die Vormittage vorwiegend mit der Betreuung von Flüchtlingen. Im Oktober 2015 sind wir aus Kuba zurückgekommen und haben von den vielen ankommenden Menschen gehört. Ich hab zu meiner Frau gesagt, ich schau mir das mal an und bin zum Westbahnhof gefahren, wo die Busse eingetroffen sind. In den darauffolgenden Tagen habe ich begonnen, den Menschen, die alle kein Wort Deutsch konnten, das Nötigste beizubringen. „Bitte“, „Danke“, „Guten Tag“, „Wo ist eine Toilette?“, „Kann ich ein Glas Wasser haben?“… Dreihundert hab ich anfangs betreut. Auf Eigeninitiative hin? Ja. Eine NGO hat zwar die Organisation der Situation übernommen, aber die waren anfangs auch überfordert und es gab viel zu wenige Deutschkurse in Wien. Es waren einfach zu viele Menschen auf einmal da. Jedenfalls ist mittlerweile in meiner Betreuung ein Grüppchen von einem Dutzend übergeblieben und ich bin sehr stolz auf einige, ganz tolle Entwicklungen. Außerdem helfe ich den Leuten mit Job- oder Wohnungssuche, Behördengängen und dergleichen. Also kurz gesagt: Fünfzig Prozent des Tages verbringe ich zum Leidwesen meiner Frau derzeit mit diesen sehr zeitaufwändigen Beschäftigungen.

Julia: Ist Ihre Frau auch so aktiv wie Sie? Ist das etwas, was Sie beide teilen können?

Max Meller: Meine Frau und ich wir haben jeder unsere eigenen Aktivitäten, sind aber auch viel gemeinsam unterwegs. Sie hat z.B. irgendwann zu mir gesagt, dass ich zu dick werde und wir von nun an regelmäßig walken gehen. So hat das angefangen, dass ich täglich mindestens zwei Stunden zu Fuß unterwegs bin. Ich bin ja auch verkabelt, wie man sieht. (Anm.: Er zeigt mir ein digitales Schrittzählerarmband je am linken und am rechten Handgelenk.) Die linke Sportuhr ist für eine EU-Studie, die rechte ist meine. Und da schau ich dann, dass ich am Tag genügend Schritte sammle. Wir sind ja von dort, wo wir wohnen, in fünfzehn Minuten im frei zugänglichen Wald. So wie hier im 16. Bezirk gibt es das in Wien sonst kaum noch. Meine Frau und ich spazieren gerne und sammeln Brennnesseln oder Bärlauch. Wir haben viele gemeinsame Interessen und Aktivitäten. Wir ergänzen uns da hervorragend.

"Ich denk einfach, so wie man in den Wald hinein ruft, so hallt es auch heraus."

Julia: Sie sind ein sehr kontaktfreudiger und hilfsbereiter Mensch, inwiefern bereichern Sie diese Eigenschaften? Was gibt Ihnen das Geben zurück?

Max Meller: Hmmm … Na ja, wenn ich zum Beispiel gebeten werde den Kräutergarten einer Nachbarin zu gießen, dann mach ich das gern, weil ich das ja auch mit meinen Schritten verbinden kann. Da beweg ich mich und hab gleich wieder sechshundert Schritte gemacht mit der Gießkanne. Für mich also auch praktisch. Ich denk einfach, so wie man in den Wald hinein ruft, so hallt es auch heraus.

Julia: Und was die Unterstützung im Bereich der Flüchtlingsbetreuung anbelangt - was war hier Ihre ursprüngliche Motivation damals zum Westbahnhof zu fahren und Ihre Hilfe anzubieten?

Max Meller: Ursprünglich war es eigentlich Mitleid. Meine Freunde haben das teilweise nicht verstanden und gefragt, warum die Flüchtlinge ein Handy haben und äußerten noch andere Vorurteile. Aber geflüchtete Menschen kommen ja nicht aus Erdhöhlen. Syrien beispielsweise war ja ein Urlaubsland – es gab Geschäftsstraßen, Handwerksbetriebe usw. Und auf einmal müssen die Leute ihre Häuser verlassen und kommen mit ein paar Plastiksackerln in der Hand nach Europa. Mir taten diese Menschen wirklich leid.

Julia: Gibt es Begegnungen im Rahmen Ihrer ehrenamtlichen Tätigkeiten die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben sind?

Max Meller: Es gab zum Beispiel eine junge Frau, die aus Tibet die flüchten musste, weil sie ein Taferl getragen hat „Freiheit für Tibet“. Sie hat mich schon nach kürzester Zeit von sich aus nach den Artikeln für verschiedene Begriffe gefragt. So gescheit, sehr vorwärtsgerichtet und interessiert! Da hab ich mir gedacht: Ok, das macht Sinn! Dann gab es eine Frau, die sich weigerte einen Deutschkurs zu machen, obwohl ich ihn angeboten habe. Bis ich endlich draufgekommen bin, dass die arabischen Sätze, die ich aus dem Internet kopiert hatte, verkehrt herum waren: von links nach rechts statt umgekehrt, und sie konnte das nicht lesen. Oder das junge afghanische Paar, das mit fünfzehn zwangsverheiratet wurde und jetzt schon zwei Kinder hat: Ich wollte sie oft zum Essen einladen, was sie nie annahmen. Da musste ich erst herausfinden, dass sie ablehnten, weil sie Zuhause gewohnt waren, nur Hände beim Essen einzusetzen.

Julia: Nicht nur im Liebhartstal entstehen neue Nachbarschaften, die ganze Stadt wächst und verändert sich. Manchen Menschen fällt es vielleicht nicht immer einfach mit diesen Veränderungen umzugehen. Was würden Sie raten?

Max Meller: Momentan ist wieder ein großes Bauprojekt im Liebhartstal geplant, wo früher eine Gärtnerei war. Da gibt es natürlich Gegner, die den zusätzlichen Verkehr vermeiden und das „Grün“ erhalten wollen. Ich hab mich auch nicht gefreut, als die Wiese mit den Blumen vor unserem Haus verbaut wurde und ich freu mich noch weniger darüber, dass sie dieses Gebäude jetzt auch noch aufstocken wollen, sodass wir gar keinen Ausblick mehr haben werden, aber ich will da nicht so unfair sein und sagen: jetzt wohn ich schön und da darf jetzt keiner mehr hin. Die Stadt wächst jährlich schließlich um bis zu dreißigtausend Menschen. Ich will den Schmetterlingen und Bienen auch nicht wehtun, aber ich kann doch zu den Leuten nicht sagen: zieht’s alle nach Aspern rüber. Wo soll sich die Stadt denn ausbreiten? Wenn ich das nicht will, muss ich halt ins Waldviertel ziehen.

"Mir fehlt nichts. Wir haben einen tollen Bezirk und es gibt viele engagierte Leute."

Julia: Sie leben schon ihr ganzes Leben in Wien und haben Veränderungen miterlebt. Gibt es etwas, was durch die Entwicklung der Stadt für Sie verloren gegangen ist, an das Sie mit sentimentalen Gefühlen zurückdenken und das Sie vermissen?

Max Meller: Die Kühe. Im dreizehnten Bezirk, wo ich geboren und aufgewachsen bin, gab es noch Kühe auf den Wiesen. Die gehen mir ab. Aber wissen Sie, ich hatte vor Jahren mit Herrn Prokop, dem Bezirksvorsteher von Ottakring, ein Treffen, bei dem er mich um meine Einschätzung fragte. Ich erklärte ihm: dass die Tauben überall präsent sind, dass die Nachbarn bei offenem Fenster manchmal laut sind, das hören Sie jeden Tag. Aber wir haben in Wien ein gut ausgebautes System öffentlicher Verkehrsmittel und ein funktionierendes Recyclingsystem. Also ist die Antwort: mir fehlt nichts. Wir haben einen tollen Bezirk und es gibt viele engagierte Leute. Mir tut nur ein gewisser Kultur- und Werteverfall weh, z.B. dass ein junger Bursch nicht mehr die Kappe vom Kopf nimmt, wenn er ein Wirtshaus betritt.

Julia: Aha, was würden Sie denn den nachkommenden Generationen gerne mit auf den Weg geben?

Max Meller: Gewisse kulturelle Werte, politisches Interesse, Umweltschutz, Respekt vor den Alten und den demokratischen Gegebenheiten. Ich bin auch ein großer Elmayer-Fan und Werte wie Höflichkeit, Rücksichtnahme und Wertschätzung halte ich für sehr wichtig.

Julia: Und was wünschen Sie sich für Ihre eigene Zukunft?

Max Meller: Gesund alt werden, nachdem ich zwei sehr heftige Krebsoperationen überstanden habe - wobei ich mich beim ersten Mal selbst schon aufgegeben hatte und die Genesung meiner Frau und einem ausgezeichneten Arzt zu verdanken habe. Ich möchte noch lange motorradeln und reisen. Ich wünsche mir geistige Fitness, da ich sehr an Politik und Wirtschaft interessiert bin. Und die Liste, was ich mir für unseren Planeten, die Umwelt und die Menschen wünschen würde, ist lang – vielleicht ja in der nächsten Ausgabe?