Über alte, neue und zukünftige Traditionen

© Julia Koch

August und seine Familie führen in dritter Generation das Haus der Bisingers, die schon seit Jahrhunderten im Gebiet Ottachringen* ansässig sind. In den 1930ern bauten Augusts Großeltern in der Erdbrustgasse ihr Zuhause, wohl noch nicht ahnend, welche Bräuche den ihrigen in Zukunft noch folgen würden. August werkt, bastelt und gärtnert heute hier, verschenkt im Frühjahr im selbst gemachten Pflanzen-Buffet junge Pflänzchen und lädt im Herbst zum Halloween-Spektakel, das die Nachbarschaft zusammenbringt. Im Interview mit Julia Koch erzählt August von alten, neuen und zukünftigen Traditionen.

August Bisinger: Meine Großeltern haben das Haus erbaut und ein recht bürgerliches Leben geführt. Mein Opa war Buchhalter und besaß das erste Auto hier in der Gasse, wie mir ein älterer Nachbar einmal erzählte. Mein Vater wurde in recht enge Strukturen geboren und hatte das Bedürfnis nach mehr Freiheit; und so zog er als junger Mann nach West-Berlin, wo er als Schriftsteller in Künstlerkreisen verkehrte und meine Mutter kennenlernte, die wiederum aus der ehemaligen DDR dorthin geflohen war. Ich verbrachte die ersten acht Jahre meines Lebens also in Berlin, bis meine Eltern zurück nach Wien zogen und das Haus meiner Großeltern übernahmen.

Julia: Was sind denn deine frühesten Erinnerungen an das Zuhause hier im Liebhartstal?

August Bisinger: Der Garten hier war ein richtiger Abenteuerspielplatz für mich. In Berlin hatten wir nur einen düsteren Hinterhof, und selbst dessen Benutzung war tabu. Außerdem war es hier so ruhig, dass ich anfangs Monate lang nicht schlafen konnte, weil ich die Ruhe nicht gewohnt war. Die ersten Jahre war es gar nicht so einfach für mich, hier Fuß zu fassen, weil ich als hochdeutsch sprechendes Kind zum Beispiel in der Schule gehänselt wurde. Das war schon schwer. Es hat einige Jahre gedauert, bis ich mich richtig zuhause fühlen konnte in Wien. Meine Eltern hatten allerdings viele Bekannte und Freunde hier, besonders in der Kunstszene, und gaben oft riesige Feste. Eines davon war das „Staubflockenfest“. Meine Mutter war eine verrückte Nudel. Sie hielt nichts vom übertriebenen Putzen und prämierte im Rahmen eines Festes regelmäßig die schönste Staubflocke. Diese Tradition führe ich heute weiter. Eine Einladung dazu, die meine Mutter in den 60er-Jahren selbst gezeichnet hat, habe ich heute noch. Sie war Malerin und hatte im Dachstuhl, wo sie ein großes Fenster einbauen ließ, ihr Atelier. Einige ihrer Bilder zeigen verschiedene Ausblicke aus unserem Haus, die sich über die Jahre sehr gewandelt haben. 

Julia: Hast du denn auch mal eine Zeit lang wo anders gelebt?

August Bisinger:Ich bin zwischendurch mal ein paar Jahre zu meiner Freundin gezogen. Wir wohnten allerdings auch nicht weit von hier zwischen der Ottakringer Brauerei und der Manner Fabrik. Wir haben dann recht bald das Haus in der Erdbrustgasse übernommen und renoviert. Damals sah das Haus noch ganz anders aus als jetzt. Meine Eltern hatten die Türen lila und orange gestrichen und alles war sehr künstlerisch und bohemian. Außerdem waren die Leitung sehr alt, und so mussten meine Freundin und ich das Haus erstmal grundsanieren. Aber einzelne alte Teile haben wir behalten, wie zum Beispiel den Gartenzaun - der ist immer noch original. Leider mussten wir im Zuge der Renovierung ein paar alte Bäume und den wilden Wein fällen und entfernen. Das hat mir sehr leid getan. Ich mochte den Garten so wuchernd und verwunschen.

Julia: Du gärtnerst ja auch gerne, stimmt das?

August Bisinger: Ja. Und meist habe ich im Frühjahr viel zu viele junge Pflänzchen, die ich dann nicht wegschmeissen möchte. Stattdessen habe ich ein sogenanntes „Pflanzen-Buffet“ eingerichtet - ein Regal, das ich gezimmert habe, voll mit Zöglingen zur freien Entnahme oder auch zum Tausch für die Nachbarn. Es gibt ähnliche Projekte, die mir sehr gefallen. Zum Beispiel einen Imker, der hier im Liebhartstal Honig produziert. Er hat eine offene Türe - man kann hineingehen, sich selbständig Honig holen und die Bezahlung in eine bereitgestellte Kassa geben.

"Außerdem lernt man hinter jedem Gartentor eine andere Welt kennen."

Julia: Damit schaffst du also ein Stück neue Tradition hier im Grätzel. Du hast im Laufe der letzten Jahre einen weiteren Brauch hier in der Nachbarschaft etabliert - ein Halloween-Spektakel für die Kinder. Wie kommt das?

August Bisinger: Ich kannte Halloween schon sehr lange, auch als es bei uns noch nicht zelebriert wurde. Da treffen ja verschiedene Bräuche aufeinander; zum Beispiel Allerheiligen oder Bräuche aus der alten keltischen Kultur. Ich mag das Mystische und Verwunschene daran. Und seit ein paar Jahren verwandle ich unseren Garten im Oktober immer in ein Halloween-Abenteuer und veranstalte für die Kinder ab und an eine Rätseltour durch die Nachbarschaft. So kommen die Nachbarn zusammen und man lernt sich etwas kennen. Weihnachten feiern wir nur im Familienkreis, aber „Trick-or-treating“ ist ein Anlass für den größeren, nachbarschaftlichen Kreis. Und das finde ich das Schöne daran. Inzwischen machen auch schon andere NachbarInnen mit, wie zum Beispiel auch die Schwestern vom Gasthaus Schmid ums Eck. Und wenn man Glück hat, lernen dadurch auch Erwachsene einander kennen und es entstehen immer wieder neue Bekanntschaften oder neue Projekte. Außerdem lernt man hinter jedem Gartentor eine andere Welt kennen. An gewöhnlichen Tagen spaziert man hier die Gasse entlang und sieht die Häuser nur ansatzweise hinter den Fronten der Gartenzäune, aber zu Halloween kann man mit den Kindern gemeinsam dahinter schauen in neue Welten hineinschnuppern.

Julia: Welche Entwicklungen wünscht du dem Liebhartstal und der Generation deiner Kinder zukünftig?

August Bisinger: Grade für die Kinder sind die Gegend und das Haus mit dem Garten natürlich super. Unsere Söhne rennen draussen rum, graben und bauen und fahren Fahrrad auf der Straße. Die kleine Ella wird das sicher auch bald machen. Als ich so alt war, wie unser ältester Sohn jetzt ist, gab es hier noch nicht so viele Kinder; und nur mit mir im Haus war es hier recht still. Aber heute ist das anders - wild und laut. Inzwischen sind sehr viele junge Familien hergezogen, und die Jungs haben einige Freunde in der Nachbarschaft. Ich wünsch mir, dass die Gegend so schön bleibt, vielleicht eines der Kinder irgendwann das Zuhause hier übernehmen möchte und eine neue Generation das Leben weiterhin laut und bewegt in die Zukunft trägt.

*Um 800 entstand Ottakring als Dorf der Leute des Otacher, eines Grafengeschlechts aus dem Chiemgau.