Vom Leben und Arbeiten im Haus Liebhartstal

Lachende Frau auf einem Laptop-Bildschirm
© Julia Koch


Als Leiterin des Hauses Liebhartstal für unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge (UMF) hatte Christine Okresek* fünf Jahre lang alle Hände voll zu tun. Gemeinsam mit einem bemerkenswerten Team hat die Wienerin einen Ort aufgebaut, der für viele junge Menschen ein neues Zuhause wurde, erzählt sie Julia Koch im Skype-Gespräch.

Christine Okresek: In Belgrad erfuhr ich von innovativen Projekten, die Menschen auf der Balkanroute unterstützen. Es wurde dort schnell Initiative ergriffen, Konzepte wurden entworfen und umgesetzt - zumeist ohne staatliche Hilfe, was mich beeindruckt hat. Ich hatte eigentlich vor, in Südosteuropa zu bleiben, habe mich aber 2015 mit dem Samariterbund in Wien in Verbindung gesetzt und mich für die Flüchtlingshilfe beworben. Dort wurde gerade jemand für die Leitung des UMF-Hauses im Liebhartstal gesucht. Ich hatte zwar keine Erfahrung in der Flüchtlingshilfe, aber ich konnte Teams leiten und Ordnung ins Chaos bringen. Und genau das wurde gebraucht.

Das ehemalige Pensionist*innenheim Haus Liebhartstal hätte eigentlich abgerissen werden sollen. Bis es soweit war, nutzte die Stadt Wien das Haus im Winter zur Unterbringung obdachloser Menschen. Im Spätsommer und Herbst 2015 ging es Schlag auf Schlag. Es gab in Wien zu wenige Möglichkeiten, Flüchtlinge unterzubringen. Viele Organisationen brauchten eine gewisse Vorlaufzeit, um Unterkünfte zur Verfügung stellen zu können und so beschloss der Samariterbund kurzfristig, das Haus Liebhartstal für geflüchtete Menschen zu öffnen.

Christine Okresek: In den ersten zwei Monaten wurden täglich etwa hundert neue Menschen für eine Nacht im Haus Liebhartstal untergebracht, bevor sie weiterreisten. Außerdem sollte sowohl ein UMF-Haus, als auch ein Haus für Familien und alleinstehende Frauen entstehen. Zu etwa sechzig minderjährigen Mädchen und Burschen kamen später auch Familien. Und das alles ohne großartigen Plan und in einem Gebäude, das eigentlich nicht dafür ausgestattet und sehr abgewohnt war. Wir Mitarbeiter*innen im UMF-Haus wussten anfangs ja noch nicht so genau, was diese jungen Menschen brauchten. Alle waren neu in Wien und wir hatten noch sehr wenig gemeinsame Sprache. Unsere Kolleg*innen, die Farsi und Arabisch sprechen, haben enorm viel geleistet, denn sie waren der Dreh- und Angelpunkt der Kommunikation in diesem Durcheinander. Ein großartig chaotischer Anfang. Unbeschreiblich.

Nach erster Skepsis, die Christine vom bereits bestehenden Team entgegengebracht wurde, wuchs schnell eine Hand in Hand arbeitende Mannschaft, die jede Welle der Überforderung gemeinsam meisterte. Es gab keine Schablone für Flüchtlingsunterkünfte in diesem Ausmaß, die einfach hätte angewendet werden können. Gemeinsam mit Sozialarbeiter*innen, Pädagog*innen und muttersprachlichen Mitarbeiter*innen wurde das Haus Liebhartstal nach eigenen Vorstellungen aufgebaut. Multi-kulturell und co-edukativ, also gemeinsame Wohneinheiten sowohl für alle Nationalitäten als auch für Mädchen und Burschen sollten es sein. Es gab Mitarbeiter*innen, die für Wohn- und Freizeitbetreuung zuständig waren, Bezugsbetreuer*innen für die einzelnen Jugendlichen und ein engagiertes Nachtdienstteam. Aber Herausforderungen warteten an jeder Ecke. Das Haus war teilweise baufällig, es gab anfangs nicht die Möglichkeit selbst zu kochen und das gelieferte Essen war sehr unbeliebt bei den Bewohner*innen. Viele waren mit der Situation recht unglücklich. In diese Unzufriedenheit und das anfängliche Chaos musste Struktur gebracht werden.

Wir hatten unglaublich viel Freude an der Sache und haben gemeinsam etwas wirklich Wertvolles geschaffen.

Christine Okresek: Wir haben zu Beginn im Team fast basisdemokratisch funktioniert und viele Dinge gemeinsam ausdiskutiert, bis wir einen Konsens hatten. Es war uns klar, dass es den Beitrag jeder einzelnen Person gleichwertig braucht. Wir waren alle extrem gefordert und 12-Stunden-Tage waren keine Seltenheit. Aber wir hatten unglaublich viel Freude an der Sache und haben gemeinsam etwas wirklich Wertvolles geschaffen.

Die größte Herausforderung für die Jugendlichen - und somit auch für das Team - war die Phase der Asylverfahren und die damit verbundene große Unsicherheit, mit der Geflüchtete konfrontiert sind. Den ersten Interviews beim BFA (Anm.: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl) wurde voller Hoffnung entgegengefiebert. Viele der Jugendlichen mussten Monate oder Jahre auf ihr Interview oder später die Einvernahme vor dem Bundesverwaltungsgericht warten. Diese Zeit sinnvoll zu nutzen ohne zu wissen, ob man im Land bleiben darf, ist nicht einfach. Zudem veränderte sich damals das politische Klima in Österreich. Weniger Menschen wurden ins Land gelassen. Folglich sank einerseits der Bedarf an Wohngruppen im Haus Liebhartstal und andererseits wurden die minderjährigen zu volljährigen Bewohner*innen, wodurch sich der Betreuungsschlüssel stark reduzierte und Teile des Betreuungsteams entlassen werden mussten.

Christine Okresek: Die dadurch resultierenden wiederholten Umstrukturierungen waren hart - für das Team und für die Jugendlichen, die meist sehr starke Bindungen zu den Betreuer*innen aufgebaut hatten. Gerade für Geflüchtete ist Stabilität und Kontinuität extrem wichtig, weil sie ohnehin von so viel Unsicherheit umgeben sind. Jugendliche, die einige Jahre in Österreich gelebt hatten, die viel in ihre Ausbildung und den Beruf investiert und sich eine Zukunft im Land erhofft hatten, verstanden die Welt nicht mehr, als die ersten negativen Bescheide vom BFA eintrafen. Es ist ja schon für uns österreichische Erwachsene eine Herausforderung zu verstehen, wie das Asylverfahren funktioniert, wie soll ein fremdsprachiges Kind verstehen können, was da abläuft? Wir leben in einem Rechtsstaat, aber das garantiert leider keine Gerechtigkeit. Trotzdem ist in dieser herausfordernden Situation auch sehr viel gelungen.

Wenn die Kids anfangen, kritisch zu denken und gesellschaftspolitisch relevante Fragen zu stellen, dann erkennt man, wie großartig sich ihr Weltbild innerhalb weniger Jahre entwickelt hat. Natürlich ist die Wohn- und Betreuungssituation in einem UMF-Haus alles andere als ideal, aber sie bringt auch Vorteile mit sich. Dadurch, dass die Jugendlichen im Haus viele Ansprechpartner*innen und Betreuer*innen haben, formt sich ein breiteres Verständnis für ihre Umwelt. Von diesem Orientierungsprozess, den die Jugendlichen durchlaufen um sich in ihrer neuen Welt zurechtzufinden, profitieren sie ungemein. Auf diesem Weg die eigene Vorstellung von Werten zu entwickeln, halte ich für äußerst sinnvoll. Ein sehr spannender Prozess.

Einige der Jugendlichen haben eine Familienzusammenführung erlebt. Schön. Und schwierig.

Christine Okresek: Das Kind hat sich alleine auf den Weg gemacht und einen Entwicklungsprozess durchlaufen. Es hat gelernt, sich neu zu orientieren und selbstständig zu handeln. Zum Zeitpunkt der Zusammenführung müssen sich junge Männer dann plötzlich wieder dem Vater unterordnen. Und Mädchen, die jetzt gerne tanzen und mit Freundinnen ausgehen, treffen auf ihre Mütter, die unter Umständen alles verkauft haben was sie besitzen, um bei ihren Töchtern sein zu können und erkennen jene nun kaum wieder. Werte ändern sich, Strukturen wandeln sich – das Kind, das die Reise gemacht hat, ist nicht mehr die Person, die damals von Zuhause weggegangen ist.

Die Jugendlichen haben in Österreich Kurse und Schulen besucht, haben neue Sportarten kennengelernt und sich in künstlerischen Bereichen ausprobiert, sie können jetzt Fahrrad fahren und einen Patschen flicken. Großartige Initiativen, die dankbar genutzt wurden.

Christina Okresek: Logisch war, dass irgendwann ein Punkt kam, an dem sich die Nachfrage nach speziell für sie angebotenen Aktivitäten erschöpft hat. Die Kids wollten nach einer gewissen Zeit, die sie in Österreich verbracht hatten, lieber rausgehen und sich in bestehende Strukturen integrieren - nicht als Geflüchtete, sonders als ganz normaler Teil unserer Gesellschaft betrachtet werden.

Ein weiter Weg vom Beginn bis hierhin, betont Christine, denn nicht alle Jugendlichen waren anfangs glücklich mit ihrer neuen Herberge.

Christine Okresek: Aber schlußendlich ist es für die meisten doch ihr Zuhause geworden, das sie immer noch regelmäßig besuchen obwohl sie inzwischen längst ausgezogen sind. Viele kommen vorbei und quatschen in der Küche mit unserer persischen Köchin oder mit ihren ehemaligen Betreuer*innen. Es wäre also wirklich schön, wenn das Haus noch lange eine Anlaufstelle für sie bleiben kann.

*Christine Okresek hat Französisch und Kroatisch studiert, daraufhin fünf Jahre an der Universität in Rijeka Germanistik unterrichtet und in Folge am Österreich-Institut in Ljubljana gearbeitet. Weitere Erfahrungen in der österreichischen Entwicklungszusammenarbeit in Südosteuropa haben Christine auf den Weg der sozialen Arbeit geführt, den sie 2015 in Wien fortgesetzt hat.