Zum Nachlesen: Geschichten
aus dem Alten Ort
Die rasenden Reporter*innen unserer Initiative „Wir machen Zeitung“ treffen Menschen im Viertel rund um den „Alten Ort“ in Ottakring und sprechen mit ihnen übers Grätzl und darüber, was sie bewegt. Wer sind die Menschen die hier wohnen und arbeiten? Was tut sich in der Nachbarschaft und was macht sie so besonders? Welche Erinnerungen verbinden die Bewohner*innen mit diesem Ort? Das und mehr erzählen sie in ihren Geschichten:
Valentina, die ukrainische Künstlerin
Wir besuchen Valentina, eine ukrainische Künstlerin, und ihre Schwester Olga im Haus Liebhartstal, einer Unterkunft für geflüchtete Familien. Beide sind bereits zweimal vor dem Krieg geflohen: Vor zehn Jahren von der Krim nach Charkiw und von da nach Wien. Valentina arbeitet mit Ölmalerei, Grafik und Ikonografie, während Olga Innen- und Außendesign sowie Geschichte studiert hat. Seit ihrer Kindheit wurden sie von ihren unterstützenden Eltern in der Kunst gefördert. In Österreich fühlen sie sich an die Krim erinnert. „Die Berge, das saubere Wasser, die Natur – es ist unserer Heimat sehr ähnlich. Wir fühlen uns hier sehr wohl“, erzählt Valentina.
Im ersten Jahr nach ihrer Flucht stand sie allerdings unter Schock und malte nicht, da sie auch keinen Zugang zu Materialien hatte. Dennoch ist es die Kunst, die den beiden hilft, Herausforderungen zu bewältigen. Trotz Krieg und Krankheit haben sie zahlreiche Länder bereist und viele Orte in Österreich erkundet, immer auf der Suche nach Kunst, Natur und Kultur.„Als Malerin fängt man jedes Mal mit einem leeren, weißen Blatt an. Man weiß nicht, was als Nächstes kommt oder wie das Ergebnis aussehen wird. Aber das wiederholt man tausend Mal, vertraut auf sich und wird dadurch mental stärker“, erklärt Olga, wie sie immer wieder neue Kraft schöpft. Sie ermutigt auch andere, Herausforderungen anzugehen und nicht aufzugeben.
Der Anfang in Wien war jedoch schwierig – insbesondere die Sprachbarriere und die Unterbringung bereiteten Probleme. Sie schätzen jedoch ihre jetzige Unterkunft, die ihnen Raum für Kreativität bietet:„Wir haben eine grüne Umgebung, ein wunderschönes Panorama und einen Berg direkt vor der Tür. Der Weinberg erinnert uns an zu Hause. Fehlt nur noch das Meer.“ Valentinas Liebe zur Natur ist auch zentrales Thema ihrer Malerei. Für die Zukunft träumen sie von mehr Ausstellungen, einem kleinen Atelier und der Möglichkeit, ihre Leidenschaft für die Kunst als Lehrerinnen weiterzugeben.
Dr. Müller, Leiter des Bezirksmuseums Ottakring
Im Gespräch mit Dr. Müller, dem Leiter des Bezirksmuseums Ottakring, tauchten wir tief in die Geschichte des Alten Orts ein. Dr. Müller wohnt selbst im Grätzl und radelt am Weg zu seinem Arbeitsplatz fast täglich durchs historische Zentrum Ottakrings. Im Bezirksmuseum präsentiert er uns Karten und Pläne, die bis ins Jahr 1819 zurückreichen und erzählt: „Damals war Ottakring noch ein kleines Dorf, geprägt von Landwirtschaft und Handwerk. Ein markantes Merkmal war der Ottakringer Bach, der früher noch oberirdisch verlief. Erst in den 1830er-Jahren wurde er teilweise eingewölbt. Diese Veränderungen sind in einer Ausschreibung des ansässigen Klosters dokumentiert.
Viele der heutigen Straßennamen wie beispielsweise die Pfenninggeldgasse, die Funkenkerngasse, die Erdbrustgasse und die Lienfeldergasse haben historische Bezüge. Diese Namen spiegeln die bäuerliche und handwerkliche Vergangenheit Ottakrings wider. Sie verweisen auf alte Bezeichnungen von landwirtschaftlich genutzten Grundstücken.
Mit der Zeit entwickelte sich im Zuge der Industrialisierung aus dem alten Dorf die typische gründerzeitliche Blockrandbebauung, eine Gruppierung von Gebäuden in geschlossener Bauweise um einen gemeinsamen Hof. 1872 wurde die Straßenbahnlinie – zunächst mit Pferden betrieben – eingerichtet. Diese brachte den Anschluss an die Stadt und förderte das Wachstum. Der erste Gemeindebau Ottakrings entstand bereits 1921. Dieses frühe Beispiel sozialer Wohnbaupolitik zeigt, wie die Stadt Wien nach der Eingemeindung Ottakrings die Entwicklung vorantrieb.
Nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs und dem allgemeinen Verfall setzte in den späten 1950er- und frühen 60er-Jahren eine Erneuerungsphase ein. Viele alte Gebäude wurden modernisiert oder durch Neubauten ersetzt.“
Dr. Müller fasziniert besonders, „dass seit Jahrhunderten und trotz der vielen Veränderungen, die historische Struktur des Alten Orts in Ottakring in vielen Teilen erhalten geblieben ist.“ Diese Mischung aus alten Bauten und modernen Strukturen macht den besonderen Charme dieses Wiener Bezirks aus.
Hikmet, der Koch mit dem Fahrrad
Als wir Hikmet im türkischen Supermarkt auf der Sandleitengasse treffen, lädt er uns spontan auf ein Getränk ein und wir kommen ins Gespräch. Hikmet erzählt uns, dass er mit 9 Jahren mit seiner Schwester aus Afghanistan flüchten musste. Nach einigen Jahren in der Türkei ist er zu einem Fußmarsch nach Österreich aufgebrochen. 3,5 Monate hat er dafür gebraucht. Er ist bei Kälte, Regen, ohne Wasser und ohne Pass marschiert, ist den Eisenbahnschienen gefolgt und seinem Gefühl. Dabei hat er viel Schlimmes erlebt, aber auch Hilfsbereitschafterfahren.
Als er einmal sehr krank war, hat ihm ein fremder Mann sein Geschäft für drei Tage als Schlafplatz überlassen, ihn mit Wasser und Essen versorgt und ein Zugticket gekauft. Als Hikmet wissen wollte, wie er ihm das zurückzahlen kann, antwortete ihm der Mann:„Mir musst du nichts zurückgeben, aber sei du selbst auch so hilfsbereit.“ Das hat er sich zu Herzen genommen. „Ich helfe allen, egal woher sie kommen – für mich sind alle Menschen gleich viel wert. Ich kenne alle meine Nachbar*innen, wir grüßen einander und ich frage immer nach, wie geht es ihnen geht. Ein Lächeln von Nachbar*innen ist für mich genug, um einen schönen Tag zu haben.“, sagt Hikmet, der als Koch arbeitet und ein Vorbild für andere sein möchte. Neben dem Kochen liebt er es zu schnitzen, Fahrräder zu reparieren und Tischtennis zu spielen. Sein größter Wunsch: Seine Familie wieder zu treffen - er hat sie seit 18 Jahren nicht mehr gesehen.
Frau Sommer, die gute Seele im Gemeindebau
Dieses Mal machen wir uns mit einem konkreten Ziel auf den Weg in den Alten Ort in Ottakring: Wir treffen uns mit einer alten Bekannten für ein Gespräch. Frau Sommer war viele Jahre lang Hausbesorgerin in einem Gemeindebau in Ottakring, in dem sich auch unser GB* Büro befindet. Sie war sehr beliebt bei der Nachbarschaft und hatte immer ein offenes Ohr für alle. Die Menschen teilten erfreuliche Nachrichten, aber auch alltägliche Sorgen und Probleme mit ihr. Eine Kollegin erzählt, dass ihr der Anblick der Hausbesorgerin, die aus dem Fenster schaut, immer noch fehlt.
Nun ist Frau Sommer im wohlverdienten Ruhestand. Die Gegend rund um die Sandleitengasse, in der sie heute wohnt, gefällt ihr besonders gut. Supermärkte und Frisör sind zu Fuß erreichbar, es gibt mehr Grün und für weitere Wege nutzt sie den öffentlichen Verkehr: „Für mich ideal! Ich bin nicht auf meinen Mann angewiesen und nicht auf das Auto.“
Auch ihre Tochter wohnt in der Nachbarschaft. Diese würde sich gerne mehr um ihre Mutter in Pension kümmern.„Meine Tochter sagt ,Ruf an!‘, aber ich sage nein, ich mache das zu Fuß oder mit der Straßenbahn. Lasst mir meine Selbstständigkeit!“
Die Jungen wären gerne aufs Land in ein Mehrgenerationenhaus gezogen, aber dafür ist Frau Sommer viel zu sehr Städterin und hängt an ihrer Autonomie. Diese steht und fällt mit den Möglichkeiten, die das Wohnumfeld bietet: Ärzte, Bäcker, öffentliche Verkehrsmittel, aber auch beiläufigen soziale Kontakten, die sich in einer Wohnhausanlage ergeben. Es gibt viele Gründe, die für Frau Sommer für ein Leben in der Stadt sprechen.
Herr S., der Tischler in den Stadtbahnbahnbögen
Auf der Suche nach spannenden Menschen und interessanten Geschichten entdecken wir bei den Stadtbahnbögen im Alten Ort von Ottakring ein buntes Schaufenster: Zahlreiche Körbe, kleinere Möbelstücke und diverse Gegenstände aus Holz zieren die Auslage. Das macht uns neugierig. Die Tür steht offen, doch keiner scheint da zu sein. Wir finden Herrn S., den Besitzer der Tischlerei, ganz hinten im Lager, wo sich zahlreiche Holzlatten, Platten und Kisten bis an die Decke stapeln. Wir fühlen uns wie in einer Zeitkapsel: Körbe, Garnituren, Schneidbretter - alles ist in Schilling angeschrieben. Herr S. beginnt zu erzählen: 87 Jahre sei er alt, seit 60 Jahren an diesem Standort, aber nun wollen die Bundesbahnen die Bögen renovieren und er muss weichen. Herr S. hat schon viele Veränderungen erlebt und mitgemacht: Gelernt hatte er Kunsttischler, später arbeitete er als Möbeltischler und aufgrund der Marktveränderungen schlussendlich auch als Bautischler. Er fertigte unter anderem Möbel für Bundeskanzler Julius Raab an und auch besondere Einzelstücke wie Barockbetten.
Herr S. half auch im Korbgeschäft seiner Frau in Ottakring mit, das eine Zeitlang sehr gut lief. Doch dann kam die Billigwahre aus China und sie mussten zusperren„Im Winter gab’s weniger Aufträge und ich hätte Zeit gehabt, um Ski zu fahren, aber es war kein Geld da. Ich hab immer nur gearbeitet. Oft haben die Kinder schon geschlafen, wenn ich heimgekommen bin.“Früher hatte Herr S. drei bis vier große Aufträge im Jahr, zuletzt nur noch einen. 70.000 bis 80.000 Schilling kostete früher ein Bett aus Handarbeit, zuletzt hätte er für eine ganze Sitzgarnitur nur noch 3.000 Schilling verlangen können.
Herr S. hätte seine Tischlerei gerne an seinen Sohn übergeben, aber dieser war nie an Holz interessiert. Generell kenne er kaum noch Menschen, die meisten die er kannte, seien schon tot. Den Nachbarn, ein Mechaniker, grüße er, mehr Kontakte hätte er nicht.„Das ist die Stadt, da rennen viele Leute herum, aber man kennt sich nicht“, sagt Herr S., der sich lieber an die alten Zeiten erinnert, als er am Wilhelminenberg Schafe, Hendln und Ziegen hatte. Einmal wären ihm die Ziegen davon gerannt - bis in die Stadt, lacht der alte Herr und meint:„Wenn man so lange lebt, erlebt man viele Veränderungen. Man gewöhnt sich daran, aber es ist nicht immer leicht!“
Herr A., der Friseur in der Thaliastraße
In der Thaliastraße gibt es 19 Friseursalons, aber der von Herrn A. ist mehr, als nur ein Ort zum Haare schneiden. Menschen kommen oft hierher, um zu verweilen, zu plaudern und Informationen auszutauschen. Herr A. kann das in sechs verschiedenen Sprachen.
„Wir haben eine sehr gute Zusammenarbeit und Solidarität untereinander. Wenn unser Wasser abgestellt ist, geben uns unsere Nachbarinnen und Nachbarn mit einem Schlauch Wasser, wenn unser Strom abgestellt ist, versorgen sie uns mit einem Generator mit Strom. Wir sind wie Verwandte geworden. Es ist uns egal, woher sie kommen, welchen Glauben sie haben oder welche politischen Ansichten sie vertreten. Vorurteile sind wie ein Ungeheuer“, erzählt Herr A.
Herr A. wurde in Bulgarien geboren. Inzwischen arbeitet er schon seit 10 Jahren im Salon und lebt gerne in Ottakring: „Dieser Ort hat mir viel gegeben. Dank der guten Bedingungen, die mir diese Stadt bietet, habe ich mich entwickelt und bin ein ganz anderer Mensch geworden.“
Herr A. meint, der Beruf des Friseurs ist mehr als nur Haare schneiden. Die Kund*innen erzählen viel und bauen Vertrauen auf. Deswegen ist er auch sehr gut vernetzt in seinem Viertel und hat Kontakte aus den unterschiedlichsten Bereichen, was ihm das Leben erleichtert: „Das Gefühl, in diesem Viertel zu wohnen, gibt uns das Gefühl, zu Hause zu sein.“
Frau B., die ehemalige Kinderkrankenpflegerin
Wir treffen Frau B. am Stillfriedplatz. Frau B. ist 89 Jahre alt und kommt aus dem Kosovo. Sie sitzt gerne hier im Park in der Sonne, um eine Zigarette zu rauchen. Als Kind hat sie im Krieg viel Schlimmes erlebt, daher wollte sie ursprünglich Ärztin werden. Als sie dann schwanger wurde, unterbrach sie ihr Studium und begann als Kinderkrankenpflegerin zu arbeiten. Auf ihre eigenen Kinder ist sie sehr stolz. Leider leben diese nicht in Wien. Hier hat sie nur eine Bezugsperson. Frau B ist eine großzügige Frau, fast ihre ganze Pension schenkt sie ihrer Nachbarin mit behindertem Sohn in Dubrovnik.
Was ihr besonders wichtig ist, gibt sie uns noch mit auf den Weg: „Studieren, studieren, studieren. Besonders Migrant*innen sollen die Möglichkeit nutzen, sich zu bilden. Lieber das Geld in Ausbildung stecken als in Autos!“
Mario, der Schülerreporter
Unser Team war beim Straßenfest „Grätzl for Future“ mit einer Zeitungswerkstatt für die Schüler*innen vor Ort. „Gemeinsames Leben und Lernen im Alltag“ ist das Motto des „BildungsgrätzlWest“. Es geht um Freude und Zusammenhalt, um Chancengerechtigkeit und darum, die Selbstwirksamkeit der Schüler*innen zu stärken.
Mario, ein junger Mann, ist der erste Besucher an unserem Stand. Er ist zuerst etwas schüchtern, aber sehr interessiert an unserer Zeitungswerkstatt. Gemeinsam erörtern wir die Aufgaben von Journalist*innen. Ausgestattet mit „Presseausweis“, Presseweste, Aufnahmegerät und Kamera schicken wir den jungen Reporter aus, um Festbesucher*innen zu interviewen und die Stimmung vor Ort einzufangen. Die Fotos von Mario werden später vor Ort ausgedruckt und er bringt seine Interviews mit einer alten Schreibmaschine zu Papier.
Nebenbei erzählt uns Mario, dass er früher Schüler an der NMS Koppstraße war. Seither käme er immer wieder gerne zu Veranstaltungen her. „Es war eine gute Zeit, die Lehrer*innen waren sehr nett und die Kinder auch.“ Zum Schluss wollen wir noch wissen, was ihm am „Grätzl for Future“-Fest am besten gefalle? „Was ich hier schön finde, ist Gerechtigkeit“, antwortet er mit einem Lächeln.